Bundesverfassungsgericht erklärt Regelleistung nicht nur bei Kindern für verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht (BverfG) hat die bisherigen Regelungen zur Bemessung der Regelleistung für Kinder – und teilweise für Erwachsene - von Hart IV-Empfängern für verfassungswidrig erklärt. Die Berechnung verstoße gegen den Grundsatz der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip. Die Methode, einfach 60 % vom Bedarf eines Erwachsenen abzuziehen, sei nicht ausreichend. Gleiches gelte für den vollständigen Verzicht auf atypische Ereignisse bei der Bemessung des Regelsatzes – auch für Erwachsene. Gerügt wurde auch die mangelnde Transparenz bei der Berechnung. Bis zum Ende des Jahres (31.12.2010) muss der Gesetzgeber auf jeden Fall nachbessern.
Hier haben wir für Sie den Originalwortlaut der Pressemitteilung abgedruckt:
"Mit Urteil vom 20. Dezember 2007 hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts Kommunalverfassungsbeschwerden von Kreisen
und Landkreisen gegen organisatorische Regelungen des
Sozialgesetzbuches Zweites Buch (Grundsicherung für Arbeitsuchende)
teilweise stattgegeben. Soweit sich die Beschwerdeführer gegen die
Zuweisung der Zuständigkeit für einzelne Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende ("Hartz IV") ohne vollständigen Ausgleich der sich
daraus ergebenden finanziellen Mehrbelastungen gewandt hatten, wurden
die Beschwerden zurückgewiesen. Die in § 44b SGB II geregelte Pflicht
der Kreise zur Aufgabenübertragung der Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (Grundsicherung für Arbeitsuchende) auf
die Arbeitsgemeinschaften und die einheitliche Aufgabenwahrnehmung von
kommunalen Trägern und der Bundesagentur für Arbeit in den
Arbeitsgemeinschaften verletzt jedoch die Gemeindeverbände in ihrem
Anspruch auf eigenverantwortliche Aufgabenerledigung und verstößt gegen
die Kompetenzordnung des Grundgesetzes.
Die Arbeitsgemeinschaften sind als Gemeinschaftseinrichtung von
Bundesagentur und kommunalen Trägern nach der Kompetenzordnung des
Grundgesetzes nicht vorgesehen. Besondere Gründe, die ausnahmsweise die
gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung in den Arbeitsgemeinschaften
rechtfertigen könnten, existieren nicht. Zudem widerspricht die
Einrichtung der Arbeitsgemeinschaft dem Grundsatz eigenverantwortlicher
Aufgabenwahrnehmung, der den zuständigen Verwaltungsträger
verpflichtet, die Aufgaben grundsätzlich durch eigene
Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen
Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Bis zu einer
gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2010, bleibt
die Norm jedoch anwendbar. Dem Gesetzgeber muss für eine Neuregelung,
die das Ziel einer Bündelung des Vollzugs der Grundsicherung für
Arbeitsuchende verfolgt, ein der Größe der Umstrukturierungsaufgabe
angemessener Zeitraum belassen werden.
Der Richter Broß, die Richterin Osterloh und der Richter Gerhardt haben
eine abweichende Meinung angefügt. Sie sind der Auffassung, dass § 44b
SGB II im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.
(Zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilung Nr. 43/2007 vom 5. April 2007)
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
I. Die Bestimmung der Kreise und kreisfreien Städte zu Trägern der
Grundsicherung in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II verletzt nicht
das Recht auf kommunale Selbstverwaltung. Die Beschwerdeführer
können sich auch nicht auf eine Verletzung von Art. 84 Abs. 1 GG
berufen
Das Recht der Selbstverwaltung ist den Gemeindeverbänden nach Art.
28 Abs. 2 Satz 2 GG nur eingeschränkt gewährleistet. Die
Verfassung beschreibt die Aufgaben der Kreise nicht selbst,
sondern überantwortet dies dem Gesetzgeber. Dessen
Gestaltungsspielraum bei der Regelung des Aufgabenbereichs der
Kreise findet erst dort Grenzen, wo verfassungsrechtliche
Gewährleistungen des Selbstverwaltungsrechts der Kreise entwertet
würden. Ein Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte
Selbstverwaltungsrecht der Gemeindeverbände kann bei einer
Aufgabenzuweisung aber erst angenommen werden, wenn die
Übertragung einer neuen Aufgabe ihre Verwaltungskapazitäten so
sehr in Anspruch nimmt, dass sie nicht mehr ausreichen, um einen
Mindestbestand an zugewiesenen Selbstverwaltungsaufgaben des
eigenen Wirkungskreises wahrzunehmen, der für sich genommen und im
Vergleich zu zugewiesenen staatlichen Aufgaben ein Gewicht
aufweist, das der institutionellen Garantie der Kreise als
Selbstverwaltungskörperschaften gerecht wird. Eine solche
Verletzung des Kernbereichs oder Wesensgehalts der
Selbstverwaltung durch die Aufgabenzuweisung haben die
Beschwerdeführer nicht dargetan.
Offen bleiben muss, ob der Bund durch § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB
II gegen Art. 84 Abs. 1 GG a.F. verstoßen hat; denn die
Beschwerdeführerinnen können sich, soweit der Schutzbereich der
Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG nicht
berührt ist, im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde nicht
auf diese Norm des Grundgesetzes berufen. Art. 84 Abs. 1 GG a.F.
enthält auch keine Konkretisierung des Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG.
Anders als Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG in der Fassung des Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl I, S.
2034) ließ sich der früheren Fassung des Art. 84 Abs. 1 GG kein
absolutes Verbot der Aufgabenzuweisung auf die kommunale Ebene
entnehmen.
II. Die Verfassungsbeschwerden sind auch unbegründet, soweit sich die
Beschwerdeführer gegen § 46 Abs. 1, 5 bis 10 SGB II wenden. Die
Vorschrift ordnet eine Geldzahlung des Bundes an die Länder zur
Entlastung der Kommunen an. Die Norm berechtigt und verpflichtet
allein den Bund und die Länder. Ansprüche oder Pflichten der
Kommunen werden hingegen nicht geregelt.
III. Dagegen verstößt die in § 44b SGB II getroffene Regelung, wonach
die kommunalen Träger und die Bundesagentur für Arbeit zur
einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben Arbeitsgemeinschaften
bilden sollen, gegen Art. 28 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 83
GG. Das in dieser Vorschrift geregelte Zusammenwirken von Bundes-
und Landesbehörden überschreitet die Grenzen des
verfassungsrechtlich Zulässigen.
1. Nach der Systematik des Grundgesetzes wird der Vollzug von
Bundesgesetzen entweder von den Ländern oder vom Bund, nicht
hingegen zugleich von Bund und Land oder einer von beiden
geschaffenen dritten Institution wahrgenommen.
Zwar bedarf das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bereich
der Verwaltung nicht in jedem Fall einer besonderen
verfassungsrechtlichen Ermächtigung. Eine Ausnahme bedarf
jedoch eines besonderen sachlichen Grundes und kann nur
hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in
Betracht kommen. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
§ 44b SGB II ordnet an, dass die Agenturen für Arbeit und die
kommunalen Träger zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben
Arbeitsgemeinschaften bilden. Bei den Arbeitsgemeinschaften
handelt es sich nicht lediglich um eine räumliche
Zusammenfassung verschiedener Behörden. § 44b SGB II sieht
vielmehr eine selbständige, sowohl von der Sozial- als auch von
der Arbeitsverwaltung getrennte Organisationseinheit vor, die
sich nicht auf koordinierende und informierende Tätigkeiten
beschränkt, sondern die gesamten Aufgaben einer hoheitlichen
Leistungsverwaltung im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitsuchende umfasst.
Die Arbeitsgemeinschaften sind als Gemeinschaftseinrichtung von
Bundesagentur und kommunalen Trägern nach der Kompetenzordnung
des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Besondere Gründe, die
ausnahmsweise die gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung in den
Arbeitsgemeinschaften rechtfertigen könnten, existieren nicht.
Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende handelt es sich
sowohl nach der Anzahl der von den Regelungen betroffenen
Personen als auch nach dem Finanzvolumen um einen der größten
Sozialverwaltungsbereiche. Darüber hinaus fehlt es an einem
hinreichenden sachlichen Grund, der eine gemeinschaftliche
Aufgabenwahrnehmung in den Arbeitsgemeinschaften rechtfertigen
könnte. Das Anliegen, die Grundsicherung für Arbeitsuchende
"aus einer Hand" zu gewähren, ist zwar ein sinnvolles
Regelungsziel. Dieses kann aber sowohl dadurch erreicht werden,
dass der Bund für die Ausführung den Weg der bundeseigenen
Verwaltung wählt, als auch dadurch, dass der Gesamtvollzug
insgesamt den Ländern als eigene Angelegenheit überlassen wird.
Die Regelung des § 6 a SGB II, wonach anstelle der
Arbeitsgemeinschaften in beschränkter Anzahl Kreise und
kreisfreie Städte die Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende vollziehen können, zeigt, dass der
Bundesgesetzgeber selbst eine in der Natur der Aufgabe
begründete Notwendigkeit für eine gemeinsame
Aufgabenwahrnehmung durch Bundesagentur und kommunale Träger
nicht gesehen hat.
Als sachlicher Grund für die Arbeitsgemeinschaften kann auch
nicht angeführt werden, dass sich die politisch Handelnden
nicht auf eine alleinige Aufgabenwahrnehmung entweder durch die
Bundesagentur oder durch die kommunale Ebene einigen konnten.
Mangelnde politische Einigungsfähigkeit kann keinen Kompromiss
rechtfertigen, der mit der Verfassung nicht vereinbar ist.
2. Die Einrichtung der Arbeitsgemeinschaft widerspricht darüber
hinaus dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung.
Dieser verpflichtet den zuständigen Verwaltungsträger, seine
Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen,
also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener
Organisation wahrzunehmen.
Eine eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung ist in den
Arbeitsgemeinschaften weder für die Agenturen für Arbeit noch
für die kommunalen Träger gewährleistet. In den
Arbeitsgemeinschaften sind unabhängige und eigenständige
Entscheidungen über die Aufgabenwahrnehmung durch den
jeweiligen Verwaltungsträger in weitem Umfang weder vorgesehen
noch möglich. § 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II bestimmt, dass die
Aufgaben in den Arbeitsgemeinschaften einheitlich wahrgenommen
werden. Diese einheitliche Aufgabenwahrnehmung zwingt die
beiden Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sich in
wesentlichen Fragen der Organisation und der
Leistungserbringung zu einigen. Innerhalb der
Arbeitsgemeinschaften sind die Aufgaben der Arbeitsagenturen
und der kommunalen Träger untrennbar verbunden und werden
integriert und ganzheitlich wahrgenommen. Dies führt dazu,
dass die Aufgaben nur dann nach den Vorstellungen des
jeweiligen Verwaltungsträgers vollzogen werden können, wenn
diese sich mit denjenigen des anderen Trägers decken.
Zudem widerspricht die Organisationsstruktur der
Arbeitsgemeinschaften der eigenverantwortlichen
Aufgabenwahrnehmung. Eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung
setzt voraus, dass der jeweils zuständige Verwaltungsträger
auf den Aufgabenvollzug hinreichend nach seinen eigenen
Vorstellungen einwirken kann. Daran fehlt es in der Regel,
wenn Entscheidungen über Organisation, Personal und
Aufgabenerfüllung nur in Abstimmung mit einem anderen Träger
getroffen werden können. Besteht, wie bei den
Arbeitsgemeinschaften nach § 44b SGB II, keine
Letztentscheidungsmöglichkeit im Rahmen der
Aufgabenwahrnehmung, kann keiner der beteiligten
Verwaltungsträger seinen eigenen Aufgabenbereich
eigenverantwortlich wahrnehmen.
Die von der Bundesagentur für Arbeit eingegangene
Selbstbeschränkung löst die Probleme nicht; denn die
Selbstbeschränkung eines der Aufgabenträger ist gleichzeitig
mit der Nichtwahrnehmung der eigenen Verantwortung verbunden,
so dass insoweit nicht mehr von einer eigenverantwortlichen
Aufgabenwahrnehmung gesprochen werden kann.
3. § 44b SGB II verstößt zudem gegen den Grundsatz der
Verantwortungsklarheit. Die organisatorische und personelle
Verflechtung bei der Aufgabenwahrnehmung behindert eine klare
Zurechnung staatlichen Handelns zu einem der beiden
Leistungsträger. Ausdruck der mangelhaften Zuordnung von
Verantwortlichkeiten, die mit der unklaren Zuordnung der
Arbeitsgemeinschaften zur Bundes- oder zur kommunalen Ebene
zusammenhängt, sind insbesondere Unsicherheiten hinsichtlich
der Anwendbarkeit von Bundes- und Landesrecht, wie sie etwa im
Vollstreckungsrecht und beim Datenschutz aufgetreten sind. Die
Unklarheiten in Bezug auf Einwirkungsmöglichkeiten und
Verantwortungszurechnung führen zudem zu Freiräumen in den
Arbeitsgemeinschaften, die die Gefahr einer Verselbständigung
ohne hinreichende Kontrolle durch einen verantwortlichen
Träger mit sich bringen.
Dem Sondervotum des Richters Broß, der Richterin Osterloh und des
Richters Gerhardt (zu Ziff. III) liegen im Wesentlichen folgende
Erwägungen zu Grunde:
§ 44b SGB II begegnet im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung
keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Norm ermöglicht eine
Auslegung, nach der die Sachkompetenz bei dem jeweiligen Träger
verbleibt und die Arbeitsgemeinschaft nur mit der Durchführung der
Aufgaben betraut wird. Diese werden von den Arbeitsgemeinschaften
lediglich aus Gründen der Optimierung der Verwaltungsabläufe
wahrgenommen. Die Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft besteht allein in der
einheitlichen Durchführung der Aufgaben der Träger der Leistungen. Die
Arbeitsgemeinschaft wird dadurch nicht selbst zum Träger der Aufgaben;
deren Erfüllung obliegt vielmehr weiterhin den Agenturen für Arbeit und
den kommunalen Trägern. Die den Landkreisen garantierte
eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung wird auch durch die Regelungen
über eine einheitliche Entscheidung nicht beeinträchtigt. Die Einigung
über die Anspruchsvoraussetzungen zwischen den Leistungsträgern stellt
sich nicht als Verständigung mit Kompromisscharakter dar, sondern als
Entscheidung zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem
Verwaltungshandeln.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass § 44b Abs. 3 Satz 2 SGB II
auch keine Verpflichtung der Kommunen entnommen werden muss, ihre
Aufgaben auf die Arbeitsgemeinschaften zu übertragen. Das Wort "sollen"
ist vom Gesetzgeber bewusst gewählt worden, um eine ansonsten absehbar
verfassungsrechtliche Konfliktlage mit der Selbstverwaltungsgarantie
der Kommunen zu vermeiden. Das Ob, der Zeitpunkt, der Umfang und die
Dauer der Übertragung stehen deshalb im pflichtgemäßen Ermessen der
kommunalen Träger.
Der Gesetzgeber hat - auch, um ein von allen Seiten für notwendig
erachtetes Reformwerk politisch realisieren zu können -
verwaltungsorganisatorisch Neuland beschritten und dafür einen
rechtlichen Rahmen festgelegt, der auf Ausfüllung durch die beteiligten
Körperschaften angelegt ist. Das Gesetzgebungswerk ist darauf
ausgerichtet, Erfahrungen zu sammeln und diese zu gegebener Zeit in der
gebotenen Weise zu berücksichtigen, was die Möglichkeit ergänzender
Gesetzgebung einschließt. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle darf
diesen Aspekt nicht ausklammern. An der grundsätzlichen Zulässigkeit
der Zusammenarbeit von Trägern öffentlicher Gewalt des Bundes mit
solchen der Länder kann nicht gezweifelt werden. Vor diesem Hintergrund
hat das Bundesverfassungsgericht zwar die bundesstaatlichen Grenzen
einer solchen Zusammenarbeit aufzuzeigen. Das Gebot, die
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu respektieren, steht aber der
Verwerfung einer Regelung entgegen, die verfassungskonform auslegbar
ist."
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