BAG bestätigt Günstigkeitsprinzip: Tarifvertrag kann Vereinbarung in Arbeitsvertrag nicht ablösen
Günstigkeitsprinzip schützt Klausel im Arbeitsvertrag vor Ablösung durch Tarifvertrag
Ein Tarifvertrag kann auch bei beidseitiger Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung in einem Arbeitsvertrag nicht ablösen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit dieser Entscheidung die Bedeutung des tarifvertragsrechtlichen Günstigkeitsprinzips betont.
Der Fall aus der Praxis
Die Kläger sind langjährig in einem Krankenhaus im nichtärztlichen Dienst beschäftigt und Mitglieder der Gewerkschaft ver.di. In den Arbeitsverträgen mit dem ursprünglichen Träger des Krankenhauses ist die Anwendbarkeit der Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR Caritas) in der jeweils gültigen Fassung vereinbart worden. Die AVR sind auch nach Betriebsübergang auf eine GmbH jahrelang weiterhin dynamisch auf die Arbeitsverhältnisse der Kläger angewendet worden. Mit Wirkung zum 01.05.2007 hat die H-GmbH die Gesellschaftsanteile an der Beklagten übernommen. Die H-GmbH als Konzernmutter hatte bereits zuvor am 16.01.2007 mit ver.di verschiedene Tarifverträge für die Unternehmen des Konzerns abgeschlossen. Außerdem schloss sie am 01.11.2007 mit der Gewerkschaft ver.di einen Nachtragstarifvertrag, der für die Beklagte gelten sollte und nach dessen Maßgabe die Tarifverträge für die Unternehmen des Konzerns bei ihr zur Anwendung kommen sollten. Damit waren die Kläger nicht einverstanden. Sie traten dafür ein, dass auf ihre Arbeitsverhältnisse weiterhin die AVR in der jeweils gültigen Fassung zur Anwendung kommen.
Das sagt das Gericht
Die Bundesrichter gaben den Klägern recht. Auf das Arbeitsverhältnis der Kläger seien weiterhin die AVR Caritas anzuwenden. Ein Haustarifvertrag könne die einzelvertraglich begründete Anwendbarkeit der AVR nicht ablösen. Vielmehr setze sich die einzelvertragliche Abrede durch, wenn sie für die Arbeitnehmer günstiger sei i. S. d. § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (TVG).
Im Übrigen scheide hier eine Ablösung bereits aus einem weiteren Grund aus: Der für die Beklagte abgeschlossene Nachtragstarifvertrag gelte bei der Beklagten nicht. Sie sei weder durch ihre Konzernmutter ordnungsgemäß vertretene Tarifvertragspartei gewesen, noch habe ein tariffähiger Verband für sie gehandelt (BAG, Urteil vom 22.02.2012, Az.: 4 AZR 24/10).
Günstigkeitsprinzip durchbricht im Arbeitsrecht geltende Normenhierarchie
Das Günstigkeitsprinzip ist die Ausnahme von der zwingenden Bindungswirkung der Regelungen einer höherrangigen Rechtsquelle. Denn auch im Arbeitsrecht gilt grundsätzlich die Regel, dass eine ranghöhere Rechtsnorm einer rangniedrigeren Rechtsnorm vorgeht (Normenhierarchie). Das Günstigkeitsprinzip besagt nun, dass entgegen der Normenhierarchie die rangniedrigere Regelung anwendbar ist, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger ist. Gesetzlich geregelt ist das Günstigkeitsprinzip nur für den Tarifvertrag in § 4 Abs. 3 TVG. Es gilt aber auch für eine in einem Arbeitsvertrag oder einer Betriebsvereinbarung getroffene Regelung. Ist also eine in einem Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung getroffene Regelung für den Arbeitnehmer günstiger als die in einem Tarifvertrag getroffene Regelung, so hat die günstigere Regelung auch für den tarifgebundenen Arbeitnehmer Vorrang.
Normenpyramide veranschaulicht die Hierarchie im Arbeitsrecht
Die sogenannte Normenpyramide im Arbeitsrecht bezeichnet das Verhältnis der verschiedenen Rechtsquellen zueinander. Danach gestaltet sich die Hierarchie der arbeitsrechtlichen Normen wie folgt:
- Europäisches Recht
- Deutsches Verfassungsrecht
- Einfaches Gesetzesrecht einschließlich Gewohnheits- und Richterrecht
- Rechtsverordnungen
- Tarifverträge
- Betriebsvereinbarung
- Arbeitsvertrag
- Direktionsrecht des Arbeitgebers
Wichtiger Hinweis
Die ranghöhere Rechtsquelle setzt sich gegen die rangniedrigere Rechtsquelle durch. Voraussetzung ist, dass der Sachverhalt hiernach in den Regelungssachverhalt der höherrangigen Norm fällt.
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