Whistleblowing – EGMR erklärt Kündigung nach Strafanzeige gegen Arbeitgeber für rechtswidrig
Altenpflegerin stellt Strafanzeige gegen Arbeitgeber
In einem gestern verkündeten Urteil (Verfahren Heinisch gegen Deutschland), das noch nicht rechtskräftig ist, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig, dass die Entlassung einer Arbeitnehmerin wegen whistleblowing eine Verletzung von Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt. Der Fall betraf die fristlose Kündigung einer Altenpflegerin, nachdem sie eine Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber erstattet hatte. Diese war mit der Begründung versehen, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in dem betreffenden Heim wegen Personalmangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen getragenen Kosten erhielten. Die diesbezüglichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Arbeitgeber wurden allerdings eingestellt. Frau Heinisch hatte vor dem Arbeitsgericht gegen ihre fristlose Kündigung geklagt. In einem Urteil vom August 2005 erklärte das Gericht die Kündigung für unrechtmäßig. Das Landesarbeitsgericht hob das Urteil jedoch im März 2006 auf. Es befand, die Kündigung sei rechtmäßig gewesen, da die erstattete Strafanzeige einen „wichtigen Grund“ für die fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dargestellt habe. Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Entscheidung, das Bundesverfassungsgericht lehnte eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ab. Die Gekündigte legte 2008 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Missstände aufdecken ist wichtiger als das Interesse des Arbeitgebers
Der EGMR hielt die Kündigung für konventionswidrig. Er führte aus, dass zwischen den Parteien Einigkeit darüber bestand, dass die von der Frau erstattete Strafanzeige als sogenanntes whistleblowing zu bewerten ist – also die Offenlegung von Missständen in Unternehmen oder Institutionen durch einen Arbeitnehmer – das in den Geltungsbereich von Artikel 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung) fällt. Es war weiterhin unbestritten, dass ihre Kündigung und die Entscheidungen der deutschen Gerichte einen Eingriff in ihr Recht gemäß Artikel 10 darstellten. Der Gerichtshof zweifelte nicht daran, dass die Frau in gutem Glauben gehandelt hätte. Die geäußerten Vorwürfe hatten zwar zweifellos eine schädigende Wirkung auf den Ruf und die Geschäftsinteressen des Arbeitgebers. Der Gerichtshof kam aber zu der Auffassung, dass in einer demokratischen Gesellschaft das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen so wichtig ist, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiegt. Schließlich sei gegen die Frau die härteste arbeitsrechtliche Sanktion verhängt worden. Ihre Kündigung hatte nicht nur negative Folgen für ihre berufliche Laufbahn, sondern könnte auch eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter des Unternehmens gehabt und sie davon abgehalten haben, auf Mängel in der institutionellen Pflege hinzuweisen. Angesichts der Medienberichterstattung über den Fall könnte die Sanktion selbst auf andere Arbeitnehmer in der Pflegebranche eine abschreckende Wirkung und somit gesamtgesellschaftlich einen negativen Effekt gehabt haben. Die deutschen Gerichte hatten also keinen angemessenen Ausgleich herbeigeführt zwischen der Notwendigkeit, den Ruf des Arbeitgebers zu schützen einerseits, und derjenigen, das Recht des Arbeitnehmers auf freie Meinungsäußerung zu schützen andererseits. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 10 vor. Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland der Frau 10.000 € für den erlittenen immateriellen Schaden und 5.000 € für die entstandenen Kosten zu zahlen hat (EGMR, Urteil vom 21.07.2011; Az.: 28274/08).
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