Gesucht - gefunden: Ein neues Führungsleitbild
Erfahrungen und Ergebnisse in der Metallteilefertigung des Global Players Phoenix Contact
Ein Change-Prozes in drei Lesarten:
- Über die verändernde Kraft eines Leitbildes.
- Über die Notwendigkeit zur Flexibilität in einer komplexen Umwelt
- und über den Weg eines theoretischen Konzepts in die Praxis.
Das Lipper Land im Nordwesten Deutschlands ist bekannt für seine Schlösser und Herrenhäuser, Flüsse und Seen. Einen Konzern mit weltweiter Bedeutung vermutet der Tourist kaum. Doch genau hier hat Phoenix Contact seinen Stammsitz, genauer in Blomberg. Im Jahr 2015 waren weltweit 14.500 Mitarbeiter beschäftigt. Der Umsatz betrug 1,91 Mrd. Euro. Der Konzern ist spezialisiert auf Komponenten, Systeme und Lösungen für Elektrotechnik, Elektronik und Automation.
1923 wurde Phoenix Contact gegründet – also vor über 90 Jahren. Bis heute hält das Familienunternehmen an einem ungewöhnlichen Leitsatz fest: Es bleibt unabhängig, sowohl von fremdem Kapital als auch von Zulieferern. Bis zur Schraube werden alle Teile selbst produziert.
Herkunft: Das tradierte Führungsverständnis
Ausgerechnet in der Metallteilefertigung hat der Change-Prozess seinen Anfang genommen. In den Werkshallen geht es laut, dreckig und ölig zu. Im Sommer kann es bis zu 40 Grad heiß werden. Hundert Männer und zwei Frauen arbeiten hier.
Im Jahr 2009 bekam der Bereich einen neuen Leiter: Doktor Michael Schäfer. Er fand eine hierarchisch-direktive Führungskultur vor – nicht ungewöhnlich für ein produzierendes Traditionsunternehmen. Sein Vorgänger hatte den Bereich aufgebaut und nach dem Leitbild seiner Generation geführt. Das bedeutet: Der Chef gibt vor, was zu tun ist. Alle anderen führen die Anweisungen aus.
Nun war dieser in Rente gegangen. Das, was den hierarchisch-direktiven Führungsstil charakterisiert, war auch in den Hallen der Metallteilefertigung in Blomberg zu beobachten gewesen: Jeder wusste, wo sein Platz war. Die Rollen waren klar verteilt, die Entscheidungen fielen in kurzer Zeit. Zugleich war das Betriebsklima geprägt von den Rollenbildern dieser Führung: Die Mitarbeiter vermieden es, Verantwortung zu übernehmen. Ihre Meinung bei der Fehlerbehebung oder Prozessverbesserung war kaum gefragt. Der Mensch verschwand hinter seiner Funktion.
Der neue Chef hatte ein anderes Führungs- und Menschenbild mitgebracht. Er wollte, dass seine Mitarbeiter und Führungskräfte mitdenken, Verantwortung übernehmen, Ziele mitentwickeln und an Entscheidungen teilhaben. In seinem Leitbild sind die Mitarbeiter Experten für das, was sie täglich tun. Seine Aufgaben als Bereichsleiter sieht er in der strategischen Entwicklung des Bereichs, im Sicherstellen der Zukunftsfähigkeit, in der Budgetverantwortung und in der Kommunikation in Richtung der Geschäftsführung.
Einsicht als erste Entwicklungsstufe: „So wollen wir nicht mehr arbeiten“
Michael Schäfer wollte eine andere Kultur. 2009 stellte er eine Anfrage für ein Kommunikationstraining seiner Führungskräfte in der Personalentwicklung bei Simone Bögeholz. Sie ist zuständig für Personalentwicklung und Change Management in den Support & Corporate Units des Unternehmens. Im Zuge dessen berät sie Führungskräfte, moderiert Workshops und Teamentwicklungen und begleitet die Umsetzung von HR-Instrumenten wie 360°-Feedback, Mitarbeiter-Befragungen und Kompetenzmodellen in den Fachbereichen. Die Entwicklung, die mit dem initialen Workshop ihren Anfang nahm, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar gewesen. Erst im Rückblick wird ein roter Faden sichtbar.
Der erste Workshop wurde von Stephan Stockhausen und Susanne Trepmann von der Manufaktur für Wachstum durchgeführt. Die Manufaktur unterstützt Unternehmen dabei, eine zukunftsweisende Kultur in der Zusammenarbeit und Selbsterneuerung zu etablieren. Ausgangspunkt sind oft Generationenwechsel auf dem Platz zentraler Verantwortungsträger. Das Bochumer Unternehmen ist seit 14 Jahren am Markt und wurde 2015 als Top Consultant im Feld der Organisationsentwicklung ausgezeichnet. Der zweite Workshop fand unter der Leitung von Simone Bögeholz und ihrer Kollegin statt.
Die über Jahre geübte Kultur aufzuweichen war mühsam. Zwei Tage intensiven Austauschs gingen ins Land, bis sich erste Erfolge einstellten. Die teilnehmenden Führungskräfte wurden sich darüber einig, dass sie wenig verband: Weder hatten sie gemeinsame Ziele noch waren sie das, was man sich unter einem guten Team vorstellt. Zugleich äußerten sie den Wunsch nach Respekt, Wertschätzung, Ehrlichkeit und einer veränderten Konfliktkultur.
Ab 2011 waren zusätzlich zu den Führungskräften alle Mitarbeiter des Bereiches in die Diskussion einbezogen. Diese stellten sich die Frage nach ihrer künftigen Zusammenarbeit: „Wie werden unsere Werte in unserem Alltag spürbar?“ und „Wie wollen wir wirklich miteinander arbeiten?“
In einem solchen Prozess gibt es viel zu tun und zu beachten: Sieben Workshops wurden durchgeführt, rund 1.000 Karten mit Meinungen und Impulsen ausgewertet und in konkrete Maßnahmen überführt.
Die Ergebnisse dieses Austauschs wurden unter dem Titel „Der Schlüssel zum Teamerfolg“ auf Plakaten festgehalten und in den Werkshallen, den Besprechungsräumen und Büros aufgehängt. Der Einsatz war groß gewesen, doch es war ein Stein ins Rollen gekommen: Michael Schäfer hatte den Anstoß gegeben. Doch schon zu diesem Zeitpunkt begannen die Mitarbeiter und Führungskräfte, den Prozess aus eigener Initiative voranzutreiben.
Einführung des Lean Management als Bewährungsprobe
So positiv die beschriebene Entwicklung bis hierher ist: In vielen Unternehmen findet Vergleichbares statt. Man nennt es „Entwickeln eines Leitbilds“. Doch dann begannen erste Bereiche des Unternehmens Phoenix Contact, sich mit Lean Management zu beschäftigen.
Lean Management weckt Assoziationen von einer härteren Gangart, mehr Stress und Kündigungen. Letzteres stand den Mitarbeitern in der Metallteile-Fertigung zwar nicht ins Haus. Sorgen und Ängste machten sich dennoch breit. In einem Change-Prozess ist das nicht ungewöhnlich.
Die Mitarbeiter aus der Metallteile-Fertigung hatten einen Vorteil: Sie konnten die Ausgestaltung des Lean Managements mit ihrem Leitbild unterfüttern. Würde es tragfähig sein? Würde es sich beweisen, dass durch bessere Zusammenarbeit auch bessere Ergebnisse möglich sind? Nun war der Zeitpunkt gekommen, das Leitbild auf die Probe zu stellen. Erneut kamen Führungskräfte und Mitarbeiter zusammen und diskutierten.
Auch hier sollte nicht der Eindruck entstehen, dass ein solcher Prozess schnell und einfach zu haben ist: Alle Mitarbeiter wurden im internen „lean lab“ geschult und damit in die Lage versetzt, eigenständig Lean-Projekte zu bearbeiten. Zu ihren Aufgaben gehörten sowohl die Dokumentation als auch die Präsentation der Arbeitsergebnisse vor der Divisionsleitung. Unterstützt wurden sie durch Coaching der Führungskräfte sowie der Trainer. Das Ergebnis war ein Ansatz, der den Anforderungen des Lean Managements und ihrem Leitbild zugleich gerecht wurde.
Dass Akademiker ihre Köpfe zusammenstecken und Lösungen entwickeln, erwartet jeder. Arbeiter hingegen sind Vorbehalten ausgesetzt – gerade dann, wenn sie über Jahre eine andere Kultur erlebt und verinnerlicht haben. Umso spannender ist die Frage, wie es gelingen konnte, die Mitarbeiter für Verantwortung und Initiative zu gewinnen.
Was hat funktioniert? Ein Erklärungsansatz
Eine Erklärung liefert die XY-Theorie. Sie wurde von Douglas McGregor in den 1960er Jahren formuliert. Im Rahmen der Theorie steht das X für ein negatives Menschenbild, das Y für ein positives:
Das X ist assoziiert mit den Bildern:
- Der Mensch ist generell unmotiviert. Er versucht nach Kräften, das Arbeiten zu vermeiden.
- Das Arbeitsentgelt ist eine Art Schmerzensgeld.
- Menschen müssen mit Belohnungen oder Bestrafungen zur Arbeit angetrieben werden.
- Sie brauchen eine straffe Führung, denn sie sind von Grund auf träge.
Die Theorie Y sieht Menschen so:
- Wenn Menschen unmotiviert sind, liegt es nicht an ihrer Natur, sondern an den Arbeitsbedingungen.
- Mitarbeiter akzeptieren Zielvorgaben. Sie besitzen Selbstdisziplin und Selbstkontrolle.
- Unternehmensziele lassen sich am besten erreichen, indem man Mitarbeiter für ihr Engagement belohnt und ihnen die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung gibt.
Vereinfacht gesprochen sagt die XY-Theorie: Je dümmer Menschen gehalten werden, umso mehr verlieren sie ihre Motivation.
Dieses weithin akzeptierte Modell deckt sich mit der praktischen Beobachtung von Stephan Stockhausen, Change-Management-Berater. Er sagt: „Menschen wollen gerne lernen. Sie wollen leisten und Verantwortung übernehmen. Anerkennung und Wertschätzung sind ihnen wichtig. Und nicht zuletzt ist Arbeit der Ausdruck natürlichen Seins.“
Demgegenüber ist in einem autoritären System (Theorie X) das Mitdenken verboten. Die Mitarbeiter verlieren ihre Bindung an die Organisation und fangen an zu rechnen: Was gebe ich? Was bekomme ich? „Mit einem autoritären Führungsstil kann man die Hände gewinnen, nicht aber den Kopf“, folgert Stephan Stockhausen.
Die Haltung des Bereichsleiters Michael Schäfer hatte Signale im Sinne der Theorie Y und den zentralen Thesen des Neuroleaderships gesetzt. Zusammen mit der Botschaft „An der Maschine bin ich nie so schlau wie du. Dein Wissen ist gefragt“ und „Wir machen das gemeinsam“ hatte er ein verändertes Wertesystem aktiviert, das geprägt ist von Zutrauen, Wertschätzung, Sicherheit und Zugehörigkeit.
Ergebnisse: Zahlen und Einschätzungen
Alle zwei Jahre findet bei Phoenix Contact eine Befragung durch das Forschungs- und Befragungsinstitut „Great Place to Work“ statt. Die Ergebnisse werden bis auf Bereichsebene ausgewertet. Die Befragung ist unternehmensweit gesetzt und unabhängig vom Change-Prozess der Metallteile-Fertigung. Doch sie eignet sich, die Effekte des Change-Prozesses zu messen.
Mit Blick auf Kommunikation, Informationsfluss und Vertrauen schneidet der Bereich Metallteile-Fertigung sehr gut ab. Insgesamt kommt der Impuls zur Organisationsentwicklung bei den Mitarbeitern gut an. Die Zahlen sprechen für sich: Die Produktivität ist um rund 25-30 Prozent gestiegen, während sich der Krankenstand und die Fluktuation auf einem geringen Niveau einpendeln.
Die Mitarbeiter in der Metallteile-Fertigung haben sich selbst zu einem belastbaren und selbstständigen Team geformt. Sie sind bereit, Lösungen zu finden. 2015 konnten sie dies erneut unter Beweis stellen: Für eine umweltfreundliche Produktion wurden vollkontinuierliche Schichten eingeführt, also eine 7x24-Stunden-Produktion. Zwar bleibt die Wochenarbeitszeit pro Mitarbeiter auf dem ursprünglichen Niveau, doch die freien Tage liegen nicht mehr zuverlässig an einem Wochenende. Dies hat auch Auswirkungen auf das private Leben.
Die Mitarbeiter haben sich zu Arbeitsgruppen zusammengeschlossen und die Schichtzusammensetzung koordiniert. Ein Gefühl von Verbundenheit und Lösungsorientierung hält die Mitarbeiter zusammen. Sie sind stolz darauf, dass sie ihre Aufgaben gemeinsam lösen – auch wenn diese unbequem und schwierig sind. Es herrscht ein Geist von „Zusammen kriegen wir das hin.“
Aufgrund des Wachstums wurde die Abteilung in einen Bereich umgewandelt. Auch qualitativ hat sich etwas verändert: In der Vergangenheit war der Bereich eine reine Fertigungsstelle. Der heutige Bereich hat ein anderes Selbstverständnis. Er treibt die Technologieentwicklung in Bezug auf die Fertigung von Metallteilen voran und versteht sich als Einheit innerhalb der Unternehmensgruppe für Beratung, Projektgeschäft und Produktentwicklung für Metallteile.
Diese ungewöhnlich positive Entwicklung strahlt auf die übrigen Abteilungen des Unternehmens aus. Die neue Führungskultur, der Zusammenhalt und das spürbare gegenseitige Vertrauen in den Werkshallen sind zu einem guten Beispiel und Leuchtturm geworden.
Die Erfolgsfaktoren und den Nutzen des Change-Prozesses schätzt Michael Schäfer so ein:
„Die grundsätzliche Idee, jedem MA einer Organisationsstruktur eine Zielvorstellung zu geben, die verstanden, gemeinsam entwickelt, getragen und auch gemeinsam angepasst wird, bildet die Grundlage der Zusammenarbeit. Durch die Integration in die Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse ergibt sich Halt und Sicherheit für die MA, was sich in einem emotionalen Einverständnis mit dem erarbeiteten Zielsystem widerspiegelt.
Die auf diesem Zielsystem aufbauenden Schritte der Umsetzung und Erreichung weiterer bzw. zukünftiger Erfolge werden dadurch nicht nur durch eine Führungskraft bzw. mehrere Führungskräfte vorangetrieben, sondern durch alle MA im jeweiligen Tätigkeitsprofil der Organisation.
Durch die Integration schon in die Planung bieten sich sowohl für den einzelnen MA als auch für die fest strukturierten Teams im Sinne der Organisation, z. B. Abteilungen, Gruppen und projektbezogene Teams, viele Gelegenheiten, eigen- oder mitverantwortete Erfolge zu generieren, wodurch sich bei gleichzeitiger Erhöhung der Wertschätzung für die erreichten Erfolge die Menge selbiger vervielfacht.
Die Einzel- und Gruppenerfolge kumulieren schlussendlich in einer Verbesserung der sozialen, organisatorischen und technischen Prozesse und Abläufe, die sich auch in den typischen Unternehmenskennzahlen widerspiegeln. Somit präsentiert sich hier eine potenzielle Win-win-Situation sowohl für die Mitarbeiter als auch die Führungskräfte und das Unternehmen, da jeder Einzelne in der Gesamtorganisation erfolgreich sein und Erfolge teilen kann.“
Aufgaben für die Zukunft
Haben die Mitarbeiter mit dem „Schlüssel“ zum Teamerfolg erreicht, was sie sich vorgestellt hatten? 2015 haben sie sich der Frage erneut in einer Workshopreihe mit abschließender Großgruppenveranstaltung gestellt. Im Dialog stellten die Mitarbeiter fest, dass sich im Kleinen viel verändert hatte. Die Reflexion war wichtig, um sich dies ins Bewusstsein zu rufen.
Offene Wünsche gibt es weiterhin zum Thema positives Feedback und Loben. Zwar ist ein positives Feedback selbstverständlicher geworden, dennoch ist es für Mitarbeiter wie Führungskräfte nicht immer einfach zu loben oder den Wunsch nach einem Lob zu äußern. Zugleich motivieren Dank und Anerkennung sehr, etwa wenn ein Mitarbeiter für einen Kollegen am Samstag oder in der Nachtschicht einspringt.
Jüngere Mitarbeiter und solche, die erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Bereich eingestiegen sind, fällt es leichter als älteren, das neue Leitbild zu leben. Die Veränderungen sind inzwischen von allen Mitarbeitern gewollt, doch die fallen gelegentlich in alte Verhaltensmuster zurück. Der Change-Prozess ist deshalb nicht abgeschlossen, sondern muss von Zeit zu Zeit ins Bewusstsein geholt und kontinuierlich gefördert werden. Und es gibt gemeinsame konkrete Ideen für Aufgaben und Veränderungen der Zukunft, beispielsweise unter dem Titel Industrie 4.0.
Wie es die Theorie in die Praxis schafft
Die Geschichte des Change-Prozesses kann man unter der Überschrift Humanität, Solidarität, Verantwortung, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit erzählen – oder anders: Der Prozess ist das Ergebnis eines Menschenbildes, das Mitarbeitern etwas zutraut und sie als erwachsene, verantwortungsbewusste und verantwortungsbereite Menschen sieht.
Die Personalentwicklerin Simone Bögeholz beschreibt es so: Der Prozess war nicht als vollständiges Projekt mit Anfang, Ende und detaillierten Zeit- und To-do-Plänen konzipiert. Wichtiger war, dass der Leiter Michael Schäfer ein Bild und Werte verinnerlicht hatte, an denen sich alle Einzelthemen, Fragen und Prozessschritte orientierten. Gemeinsam gestalteten und moderierten Simone Bögeholz und Stephan Stockhausen Dialogräume, in denen nächste Wachstumsschritte möglich wurden. Zugleich befeuert Schäfer den Prozess mit seiner Energie und seiner Überzeugung. Ihm zur Hilfe kam das traditionelle Selbstverständnis seiner Mitarbeiter. Als gute Handwerker machen sie „Nägel mit Köpfen“: Wenn sie etwas als richtig und gut erkannt haben, nehmen sie es in die Hand und setzen es um.
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