EGMR: Italien darf Kruzifixe in Schulen aufhängen
In seinem am Freitag verkündeten Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Lautsi gegen Italien hat dieser festgestellt, dass hier keine Verletzung von Artikel 2 (Recht auf Bildung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorlag. Konkret ging es um die in Klassenzimmern staatlicher Schulen in Italien angebrachten Kruzifixe. Die Beschwerdeführer sahen in der Ausstattung der Kruzifixe einen Verstoß gegen die Verpflichtung des Staates, bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung der Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. In einem Kammerurteil vom 03.11.2009 hatte der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 2 (Recht auf Bildung) in Verbindung mit Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) fest gestellt. Daraufhin rief Italien die Große Kammer des EGMR an.
Diese entschied u. a., dass die Pflicht der Mitgliedsstaaten des Europarats, die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern zu achten, nicht nur den Gegenstand und die Art und Weise des Unterrichts betrifft, sondern auch "bei Ausübung" der Gesamtheit der "Aufgaben", die die Staaten auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernehmen, zum Tragen kommt. Dies schließt die Gestaltung der schulischen Umgebung ein, sofern diese nach nationalem Recht eine staatliche Aufgabe ist. Daraus ergebe sich auf diesem Gebiet eine staatliche Verpflichtung, das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Die Große Kammer des EGMR war hier der Auffassung, dass sich nicht beweisen lässt, ob ein Kruzifix an der Wand eines Klassenzimmers einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist. Zwar war es nachvollziehbar, dass Frau Lautsi die Kruzifixe in den Klassenräumen ihrer Kinder als staatliche Missachtung ihres Rechts sah, deren Unterricht entsprechend ihren eigenen weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen; diese subjektive Wahrnehmung reiche aber nicht aus, um eine Verletzung von Artikel 2 zu begründen. Staaten besitzen einen Beurteilungsspielraum, wenn es darum geht, ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts mit der Achtung des Rechts der Eltern zu vereinbaren, diesen Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Der EGMR hat daher im Prinzip die Entscheidungen der Staaten auf diesem Gebiet zu respektieren, einschließlich des Stellenwerts, den sie der Religion beimessen, sofern diese Entscheidungen zu keiner Form der Indoktrinierung führen. Der entsprechende Beurteilungsspielraum der Staaten geht allerdings Hand in Hand mit der Kontrolle durch den EGMR, dem es obliegt, sicherzustellen, dass Entscheidungen auf diesem Gebiet nicht zu einer Indoktrinierung führen (EGMR, Entscheidung vom 18.03.2011; Az.: 30814/06).
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