Wem können wir noch vertrauen?
Vertrauen als berufliche Schlüsselkompetenz in turbulenten Zeiten
Vertrauen? Normalerweise denken wir keine Sekunde eines Arbeitstages daran. Doch verliert jemand unser Vertrauen, zum Beispiel der Chef, ein Kollege oder ein Kunde, spüren wir plötzlich, wie sich die dunkle Wolke des Misstrauens über unseren Arbeitsalltag legt und wie angenehm es doch zu Zeiten war, in denen wir uns noch gegenseitig vertrauen konnten.
Wir würden so gerne (wieder) vertrauen: dem Chef, den Kollegen, der Politik. Doch die meisten dieser vor wenigen Jahren noch sakrosankt scheinenden Institutionen der Gesellschaft und des Arbeitslebens haben unser Vertrauen verloren. Wir misstrauen ihnen. Und dieser Vertrauensverlust belastet unseren Arbeitsalltag.
Vom Verlust des Vertrauens
Neulich im Coaching räsonierte eine Managerin: „Ein Schlüssellieferant, zuverlässig seit 15 Jahren, hat uns beim letzten Projekt übel hängen lassen. Weil wir noch keine zweite Lieferquelle etabliert haben, musste ich für das neue Projekt wieder bei ihm ordern. Er hat Lieferung zugesagt. Aber seit dieser Bestellung schlafe ich nachts unruhig: Wenn er uns wieder hängen lässt, bin ich in diesem Unternehmen als Projektleiterin erledigt. Ihm vertrauen? Niemals.“ So ergeht es vielen heutzutage. Also ist unser Misstrauen doch gerechtfertigt! Das dachte die Managerin auch. Bis sie die Kehrseite des Vertrauensboykotts entdeckte.
Die Kehrseite des Misstrauens
Sie formulierte das so: „Kontrolle ist besser als Vertrauen – aber so aufwändig! Ich verliere jede Woche Stunden, um dem Lieferanten über die Schulter zu schauen! Außerdem ist das stressig und zerstört die Beziehung vollends. Als wir uns noch vertrauten, funktionierte das alles sehr viel einfacher, schneller, effizienter und weniger belastend. Aber wenn ich ihm jetzt einfach wieder vertraue, mache ich mich doch zum Deppen!“
Frage:
Macht sich zum Deppen, wer Vorgesetzten, Lieferanten, Politikern, Medien und Institutionen heute noch vertraut? Sollten wir in unseren Zeiten nicht allen und jedem/r misstrauen? Ist strategische Paranoia nicht die Schlüsselkompetenz unserer Tage?
Wem können wir heute noch vertrauen?
Haushalte, die eine Putzkraft beschäftigen, kennen auf diese Frage seit Jahrhunderten eine probate Antwort: den Geldschein unter der Fußmatte im Bad. Gibt die Putzkraft ihn ab, sobald sie ihn beim Putzen findet, ist sie vertrauenswürdig. Wenn nicht, hat man etwas Geld verloren, aber eine unschätzbare Erkenntnis gewonnen: nicht vertrauenswürdig! Weil ihn inzwischen die meisten Haushaltshelfer kennen, ist der Test heute veraltet, das Prinzip dahinter nicht: Vertrauenswürdigkeit. Vertrauen bekommt man nicht geschenkt, man muss es sich verdienen. Das ist die Antwort auf die Frage: Wem können wir noch vertrauen? Jenen, die sich unseres Vertrauens würdig erweisen. Und zwar nach Taten, nicht nach Worten.
Wem wir vertrauen können
Ein Chef, der A zusagt aber B macht, ist, so bedauerlich das ist, nicht vertrauenswürdig – auch und gerade dann, wenn er ständig fordert: „Ihr müsst mir schon vertrauen!“ Denn was er sagt, passt nicht zu dem, was er tut. Ein Kollege, der öfter mal seine Interessen über die des Teams stellt, ist nicht vertrauenswürdig. Ein Kunde, der sich hinter Ihrem Rücken über Sie bei Ihrem Chef beschwert, ist nicht vertrauenswürdig – auch wenn er Ihnen beim nächsten Termin wieder schön tut.
Vertrauenswürdigkeit erweist sich in Taten, nicht so sehr in Worten. Das ist banal, doch wir halten uns oft nicht an dieses Test-Prinzip: Wir verwechseln Vertrauenswürdigkeit mit Sympathie und fallen auf die Selbstdarsteller herein. Wir glauben den Beteuerungen eines Lieferanten, obwohl er uns hängen ließ. Wir schätzen Geschäftspartner, die perfektes Image Management betreiben, höher als Geschäftspartner, die stets liefern, was sie versprechen. Wenn wir Vertrauen sinnvoll praktizieren wollen, sollten wir Taten höher bewerten als Worte. Das gilt vor allem für den Vertrauensaufbau.
Vertrauensbildung
Immer wieder sagen mir Vorgesetzte über High Potentials: „Er/sie ist überragend fachkompetent. Aber die Kunden (Geschäftspartner, Kollegen …) vertrauen ihm/ihr einfach nicht.“ Das liegt meist nicht daran, dass die Betroffenen nicht vertrauenswürdig wären. Sie haben schlicht nie gelernt, wie gerade bei Erstkontakt, in neuen Teams, bei der Kaltakquise, bei der Vertragsanbahnung, beim Projekt-Kickoff, beim Antreten einer neuen Position die nötige Vertrauensbildung funktioniert. Sie reden bereits über Liefermenge und Arbeitspakete, während sich ihr Gegenüber unbewusst noch fragt: „Kann ich ihm/ihr überhaupt vertrauen?“ Merke: Wer Vertrauen nicht aktiv bildet, hat keines verdient. Wie bildet man Vertrauen?
Wie wir uns Vertrauen verdienen
Der Grundstein jedes Vertrauens ist der persönliche Kontakt. Der Leiter eines internationalen Projektes beschwerte sich einmal, dass ihm „die Inder“ nicht vertrauten. Seine Kollegin wusste, warum: „Wenn du denen immer nur E-Mails schickst! Die wissen gar nicht, wer du bist!“ – „Spielt das eine Rolle? Es geht doch um die Sache!“ Offensichtlich nicht. Erst kommt das Vertrauen, dann die Sache. Also telefonierte er länger mit seinem indischen Teilteam, redete über „Wie läuft’s bei euch?“, Hobbys und Familie – und plötzlich wurden seine E-Mails ausgeführt. Als er zwischendurch eine Vertrauenskrise erlebte, verriet ihm sein Mentor: „Sie sagen Ihrem Team immer, dass Sie keinen Druck machen wollen – aber dann weisen Sie Arbeitspakete mit irre knappen Endterminen an. Das passt nicht! Practice what you preach!“ Ein klassischer Vertrauenskiller: Diskordanz zwischen Wort und Tat. Seit er ehrlich die engen Termine kommuniziert, genießt er wieder das Vertrauen seines Teams. So schnell geht das? Eben nicht.
Vertrauen zurückgewinnen
Wir leben in Zeiten des verspielten Vertrauens. Die Vertrauenswerte unserer politischen, medialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger sind seit Jahren im freien Fall. Nach einer Umfrage zum Beispiel der ZEIT haben 60 Prozent der Befragten kein oder nur noch wenig Vertrauen in die Medien. Viele Angestellte haben innerlich gekündigt, wie die Gallup-Studie Jahr für Jahr belegt – unter anderem, weil die Vertrauensbasis zu Vorgesetzten und Unternehmen ge-/zerstört ist. Das liegt auch daran, dass viele Menschen im Wirtschaftsleben kaum Ahnung davon haben, wie man entzogenes Vertrauen zurückgewinnt. Immer wieder treffen in meiner Coaching-Praxis Führungskräfte ein, die sagen: „Mit der Aktion vor drei Wochen habe ich viel Vertrauen bei meinem Vorgesetzten verscherzt. Aber ich habe mich doch entschuldigt! Und zugesichert, dass das nicht wieder vorkommt! Irgendwann muss er mir doch wieder vertrauen!“ Nein. Warum nicht?
Zeit ist kein Faktor
Weil die Zeit vielleicht alle Wunden, aber keinen Vertrauensverlust heilt. Entschuldigungen helfen nicht, sondern nur Taten, wie wir bereits diskutiert haben. Wie viele Taten? Das ist die entscheidende Frage. Wirklich alle, die Vertrauen verspielen, verschätzen sich dabei kolossal. Was schätzen Sie? Wie oft müssen Sie etwas gut machen, nachdem Sie Vertrauen verspielt haben? Viele gehen von Parität aus: Ein Lapsus wird von einer Wiedergutmachung aufgehoben. Das tippen Sie auch? Leider ein Irrtum – für den niemand etwas kann. Er ist genetisch bedingt.
Neuropsychologen wie Dr. Rick Hanson („Hardwiring Happiness“) weisen darauf hin, dass wegen des sogenannten Negativity Bias eine Wiedergutmachungsimparität besteht: Negative Ereignisse beeinflussen uns sehr viel stärker als positive. Das ist evolutorisch bedingt: Das beunruhigende Rascheln im Gebüsch, das von einem Säbelzahntiger stammen könnte, aktiviert unseren Sympathikus („Stressnerv“) sinnvollerweise deutlich stärker als der Anblick der Gänseblümchen auf der Wiese uns beruhigt. Dieses Missverhältnis, diesen Negativity Bias konnten die Forscher sogar quantifizieren. Er beträgt – letzte Chance: Was schätzen Sie?
5:1
Negatives beeinflusst uns, rundheraus, fünfmal stärker als Positives. Grob auf die Vertrauensrückgewinnung übertragen: Wer eine Zusage nicht einhält und deshalb als „nicht vertrauenswürdig“ eingestuft wird, muss in der Folgezeit nicht eine, sondern fünf Zusagen einhalten, bevor er seine Vertrauenswürdigkeit zurückgewinnt. Das ist Ihnen zu viel Arbeit? Das verstehe ich nur zu gut. Das Problem ist: Die Best in Class aller Führungskräfte, Verhandler, Vorstände, Verkäufer, Politiker … kennen die 5:1 nicht nur. Sie handeln danach. Ihnen vertrauen wir. Weil sie sich unser Vertrauen verdienen. Tag für Tag. Sie auch?
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