Chef als „Wichser“ bezeichnet: Keine Kündigung wegen Beleidigung ohne Abmahnung
Kündigung wegen Beleidigung als "Wichser" erfordert vorherige Abmahnung
Bezeichnet ein Arbeitnehmer seinen Chef als „Wichser“, so rechtfertigt diese Beleidigung nicht die sofortige Kündigung. Nach einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Rheinland-Pfalz ist auch bei einer groben Beleidigung eines Vorgesetzten eine vorherige Abmahnung erforderlich, wenn zu erwarten ist, dass sie ihre Wirkung auf den Beschäftigten nicht verfehlt und sich daher der Vorfall auch nicht wiederholen wird.
Der Fall aus der Praxis
Ein Arbeitnehmer war in einem Einzelhandelsunternehmen beschäftigt. Nach einem Arztbesuch gab er im Büro des Marktleiters eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab, während dieser gerade abwesend war. Als der Marktleiter die Bescheinigung vorfand, ließ er den Beschäftigten über die Lautsprecheranlage ausrufen. Dieser meldete sich telefonisch. Der inhaltliche Verlauf des Gesprächs ist streitig. Klar ist aber, dass der Beschäftigte den Marktleiter schließlich anschrie:
"Wenn Sie schlechte Laune haben, dann wichsen Sie mich nicht von der Seite an."
Der Beschäftigte legte den Hörer auf und sagte im Beisein mehrerer Kollegen einen Satz, der mit dem Begriff "Wichser" begann. Anschließend verließ er den Markt. Kurz darauf erhielt er die fristlose Kündigung. Fristgerecht erhob er Kündigungsschutzklage. Er begründete die Klage mit dem Argument, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung trotz seiner Äußerungen nicht vorliege. Er habe dem Marktleiter die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehrmals hingehalten, sei aber von diesem völlig ignoriert worden. Deshalb habe er sie dann im Büro abgelegt. Die Äußerung des Marktleiters im Telefonat "er solle sich schon einmal mit dem Betriebsrat oder der Betriebsratsvorsitzenden auseinandersetzen – da komme noch etwas" habe er als Kündigungsandrohung aufgefasst. Darüber habe er sich so aufgeregt, dass er den delikaten Satz nicht habe zurückhalten können. Es handele sich dabei um ein Augenblicksversagen, verursacht durch Provokation und Androhung der Kündigung.
Das sagt das Gericht
Das Gericht gab der Kündigungsschutzklage statt. Die Kündigung sei unwirksam, weil ihr eine Abmahnung hätte vorausgehen müssen. Die Bezeichnung als "Wichser" stelle zwar eine grobe Beleidigung dar, die außerordentliche Kündigung sei dennoch unverhältnismäßig. Der Arbeitgeber hätte dem Beschäftigten zunächst eine Abmahnung erteilen müssen. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) könne eine Abmahnung im Einzelfall auch als milderes Mittel zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen, das für die Fortsetzung des Vertrages notwendig sei.
Das Verhalten des Beschäftigten müsse nicht sanktionslos hingenommen werden. Es sei jedoch entscheidend, ob die Reaktion des Arbeitgebers die einzige mögliche und vertretbare Antwort war. Dies sei hier nicht der Fall gewesen (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18.08.2011, Az.: 2 Sa 232/11).
Abmahnung vor Rauswurf: Nicht jede grobe Beleidigung ist ein Kündigungsgrund
Die grobe Beleidigung eines Arbeitnehmers gegenüber einem Vorgesetzten oder Kollegen stellt regelmäßig eine Störung des Vertrauensbereichs dar. Ob dies für eine fristlose Kündigung ausreicht, hängt von mehreren Faktoren ab. Vor allem das Arbeitsumfeld und die Situation, in der eine Beleidigung ausgesprochen wird, spielen dabei eine wichtige Rolle. Gerechtfertigt ist eine fristlose Kündigung grundsätzlich nur bei einer groben Beleidigung.
Wichtiger Hinweis
Eine grobe Beleidigung ist eine besonders schwere, den Angesprochenen kränkende Beleidigung. Es muss sich dabei um eine bewusste und gewollte Ehrkränkung aus gehässigen Motiven handeln.
Auf den Umgangston kommt es an
Beachten Sie, dass es sich nicht bei jedem Kraftausdruck um eine grobe Beleidigung handelt. Bei der Bewertung einer Beleidigung gilt es, stets den allgemeinen Umgangston im Betrieb zu berücksichtigen. Herrscht in dem Unternehmen eher ein rauer Umgangston, so liegt die Schwelle für eine ehrverletzende, grobe Beleidigung, die eine fristlose Kündigung rechtfertigt, höher als in einem Betrieb, in dem Wert auf einen gepflegten Umgangston und gute Manieren gelegt wird.
Praxisbeispiel
Bezeichnet ein Werftarbeiter einen geringfügig die Pause überziehenden Kollegen als „faule Sau“, so ist diese Beleidigung sicherlich anders zu bewerten als im Falle zweier Bankangestellter.
Welches Fehlverhalten grundsätzlich abmahnungswürdig ist, erfahren Sie in unserer Checkliste: Abmahnung.
In diesen Fällen kann eine Abmahnung im Einzelfall entbehrlich sein
Eine Abmahnung ist nach der Rechtsprechung des BAG entbehrlich, wenn das einmalige Fehlverhalten des Arbeitnehmers so schwerwiegend ist,
- dass es das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber unwiderruflich zerstört hat oder
- der Arbeitnehmer bewusst und fortgesetzt schwere Pflichtverletzungen begeht.
Eine Abmahnung ist immer dann entbehrlich, wenn sie weder geeignet noch in der Lage ist, die Störung des Vertrauensverhältnisses zu beseitigen. Dies kann nach der Rechtsprechung der Fall sein bei
- Diebstahl, Betrug oder Unterschlagung (Vermögensdelikte zulasten des Arbeitgebers),
- einem tätlichen Angriff auf den Arbeitgeber,
- groben Beleidigungen gegenüber dem Arbeitgeber, Vorgesetzten oder Kollegen,
- sexueller Belästigung von Kolleginnen oder Kollegen,
- dem Verrat von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen,
- schweren Verstöße gegen das Wettbewerbsverbot oder
- dem Fall, dass eine Abmahnung zum Scheitern verurteilt ist, weil der Arbeitnehmer wiederholt und nachdrücklich zum Ausdruck gebracht hat, dass auch eine Abmahnung nichts an seinem Verhalten ändern werde.
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