Stressbewältigung im Arbeitsprozess: Prioritäten setzen auf der Überholspur
„Folge der Arbeit und lass dich nicht von ihr verfolgen“, heißt es in einem japanischen Sprichwort. Doch das ist in heutiger Zeit einfacher gesagt als getan, denn unsere Arbeitswelt unterliegt einem tiefgreifenden Wandel. Die Errungenschaften der digitalen Welt führen neben vielen Erleichterungen für Arbeitsprozesse und Alltag mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit auch zu einer enormen Verdichtung der Arbeit und einer Entgrenzung des Arbeitstags. Noch auf der Bettkante oder morgens beim Gang zum Bäcker werden per Smartphone die ersten (beruflichen) Emails gecheckt, in der Mittagspause noch schnell ein Post in den sozialen Netzwerken abgesetzt und abends, nach dem eigentlichen Feierabend, werden in der Schlange an der Supermarktkasse per Whats App noch die Termine für den nächsten Arbeitstag abgestimmt.
Zunehmende Dynamisierung verursacht Stress
„Alle Prozesse unserer Arbeit unterliegen einer Dynamisierung, Ökonomisierung und Flexibilisierung, d.h., das Rad dreht sich immer schneller, alles muss Geld abwerfen, und man weiß heute noch nicht, worauf man sich morgen wieder umstellen muss“, warnt auch Dr. Ulla Nagel vor den Gefahren (Nagel, 2011). Die Anforderungen an Arbeitnehmer werden immer komplexer und das Leben immer schneller – ohne Möglichkeit, einmal von der Überholspur runterzukommen, denn wir müssen ja ständig „On-Sein “, erreichbar sein sowie Nähe und Präsenz erzeugen (zumindest digital). Die Folge: Stress! Denn die atemraubende zeitliche Verdichtung und die Entgrenzung des Arbeitstags erzeugen vor allem auch Faktoren, die Stress hervorrufen, u.a.: fehlende Zeit, Fremdbestimmung, (digitale) Abhängigkeit, Erwartungsdruck, Angst, Genervtheit, Unzuverlässigkeit, Rücksichtslosigkeit, Besserwisserei, Unfreundlichkeit ua.
Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen. (Mahatma Gandhi)
Es gibt aber mittlerweile immer Menschen, die dem großen (Veränderungs-)Druck nicht mehr standhalten können und hinten runterfallen. Die Statistiken der Krankenkassen dokumentieren mittlerweile einen Anstieg psychischer Erkrankungen in den vergangenen Jahren. Schon 2010 waren durchschnittlich 12 Prozent der Arbeitsausfalltage auf die gestiegenen psychischen Anforderungen zurückzuführen, was einer Verdopplung in den vergangenen 13 Jahren gleichkam. Besonders alarmierend ist in diesem Zusammenhang: Es sind immer mehr jungen Menschen betroffen! (Nagel, 2011)
Setzen Sie Ihre eigenen Prioritäten!
Umso wichtiger ist es: Wie gehen wir mit den schnellen Veränderungen und Stress in unserem Leben um? Stress entsteht zu einem erheblichen Teil im Kopf. Wie wir mit diesen veränderungsbedingten Stresssituationen umgehen, hängt erst einmal von unserer inneren Haltung ab. Wer als Führungskraft zum Beispiel Angst vor falschen Entscheidungen hat oder als Arbeitnehmer ständig das Gefühl hat, dem beruflichen Erwartungsdruck nicht mehr standhalten zu können, erlebt dauerhaft Stress. Gerade beim Bewältigen von Stress kommen Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Bewerten (mentale, kognitive Prozesse) große Bedeutung zu. Ob es aber tatsächlich zum Stress kommt oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, wie wir diese Situationen selber einschätzen und wie unsere eigenen Fähigkeiten, Stärken, Talente und Ressourcen beurteilen.
„Jeder von uns sieht sich in seinem persönlichen „Cockpit“ tagtäglich mit unzähligen äußeren Einflüssen konfrontiert, die wir nicht oder nur bedingt steuern können. Allerdings haben wir Einfluss darauf, wie wir diesen Inputs von außen begegnen.“ (Philip Keil, 2016, S. 26) Um alle diese mentalen, kognitiven Prozesse strukturieren zu können, ist in der Fliegerei das „Workload Management“ entwickelt worden. Es regelt die Prioritätensetzung über den Wolken und beschreibt die Kunst, in jeder Situation den Blick für das Wesentliche zu haben. Denn gerade mit Blick auf die enorme zeitliche Verdichtung des Arbeitsalltags verlieren wir oft den Blick für das Wesentliche – haben einfach nur das Gefühl, der Tag müsste 48 Stunden haben, um alles bewältigen zu können. Da kann ein überquellendes Email-Postfach oder ein einfacher Telefonanruf, der uns aus einer Konzentrationsphase reißt, schon purer Stress bedeuten. In der deutschen Wirtschaft liegt der Nutzungsgrad des Leistungspotenzials nach Schätzungen nur bei 30 bis 40 Prozent. Es fehlt einfach an Strategien, den umfangreichen Input strukturiert in die richtigen Bahnen lenken zu können. (vgl. Philip Keil, 2016, S. 26ff.)
Reflektion und Selbstreflektion sind Schlüsselqualifikationen
Mehr noch: Je größer die Angst vor Fehlern, Konkurrenzsituationen oder Veränderungen, die wir nicht einschätzen können, und je bedeutungsvoller die möglichen negativen Konsequenzen, desto größer ist das Gefühl der Bedrohung und damit auch der Stress, der sich dann körperlich niederschlagen kann. Stress lässt sich aber strukturiert über Gedanken, Gefühle und Verhalten reduzieren. Es hilft, die eigene Denkweise zu überprüfen, stressverschärfende Gedanken zu erkennen und zu verändern.
Gehen Sie wieder mehr in sich, als ständig nur auf äußere Reize zu reagieren!
Reflektion und Selbstreflektion sind die Schlüsselqualifikationen zur Stressbewältigung und insgesamt auch zu einer effektiveren Gestaltung des eigenen Arbeitsprozesses. Besonders in Situationen, die man nicht ändern kann, regen folgende Fragen zur alternativen Bewertung an: Was kann ich in dieser Situation konkret lernen? Was ist das Gute an dieser Situation? Bei näherer Betrachtung lässt sich in einer vermeintlich überfordernden Situation auch eine Chance erkennen. Nehmen Sie eine unveränderbare Situation nicht nur als reinen Stress war, sondern akzeptieren sie vielmehr als Problemstellung, zu deren Lösung Sie selbst beitragen können.
Nehmen Sie sich Zeit, um sich zu sammeln!
Die Qualität unseres inneren Dialogs, den jeder von uns täglich ungezählte Male mit sich führt – ich nenne ihn auch den inneren Plappermann oder drunken monkey –, hat einen starken Einfluss auf unser Handeln und Befinden – damit auf unser Leben. Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Der Mensch braucht Stunden, wo er sich sammelt und in sich hineinlebt.“ Der Blick auf das Smartphone scheint in heutiger Zeit immer möglich zu sein. Nehmen Sie sich einfach auch einmal die Zeit, in sich hineinzublicken, sich zu sammeln und strukturieren Sie Ihren inneren Dialog im Rahmen Ihres eigenen „Workload Managements“! Analysieren Sie Ihre Selbstgespräche, die Sie vor, während und nach Stress-Situationen führen – und zwar sowohl leichte als auch sehr anspruchsvolle, erfolgreich verlaufene ebenso wie aussichtslose. Studien zeigen, was den erfolgreichen Menschen im Bereich des inneren Dialoges auszeichnet: das Selbstgespräch verläuft konstruktiv, anspornend und handlungsorientiert. Jene Dialoge, die förderlich für Ihr Handeln waren, können als Inspiration für Ihre sogenannten Affirmationen dienen (vgl. Hans Eberspächer, Mentales Training, 2004). Das Wort Affirmation (= positives Selbstgespräch) beinhaltet das lateinische Wort „firmare“, was so viel bedeutet wie „festigen, verankern“. Eine Affirmation ist ein bejahender, bekräftigender Satz, der – oft genug laut oder innerlich wiederholt – Gedanken und Überzeugungen verändert.
Formulieren Sie (laut) positive, bejahende, kurze Sätze in der Gegenwartsform, beginnend mit „Ich…“, zum Beispiel: „Ich habe Selbstvertrauen.“ Verwenden Sie keine Affirmation, von der Sie selbst nicht überzeugt sind. Jedes Wort, das wir laut aussprechen und/oder zur Papier bringen, bekommt mehr Einfluss wie der reine Gedanke. Je mehr Sinne (sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken) eine Botschaft anspricht, desto intensiver wird sie vom Unterbewusstsein aufgenommen.
Notieren Sie Ihre Affirmationen auf Haftzetteln, die Sie in Ihrem persönlichen Bereich in Sichtweite platzieren oder speichern Sie sie als Hintergrundbild auf Ihrem Rechner oder Smartphone ab. Je öfter Sie darauf schauen, umso besser speichert Ihr Unterbewusstsein die Botschaft ab. In herausfordernden Situationen können Sie sich mit Hilfe Ihrer Affirmationen selbst bestärken, das steigert die Zuversicht und reduziert den Stress.
Emotionen würdigen statt verdrängen
Negative Emotionen können uns hemmen und blockieren. Es hilft nicht, sie zu bekämpfen oder zu verdrängen – dann holen sie uns später umso stärker ein, und das meistens, wenn wir es am wenigsten brauchen können. Besser ist es, sich selbst mit den negativen Emotionen anzuerkennen, die negative Emotion zu akzeptieren, anzunehmen und zu analysieren: Aus welchen Gründen bin ich so wütend? Welches Bedürfnis wird hier nicht gehört? Was macht mir hier gerade genau Angst? Haben Sie die Herkunft Ihrer Gefühle erkannt, nehmen Sie ihnen bereits die Macht über Sie. Halten Sie eine „innere Konferenz“ ab und schenken Sie jeder Stimme Redezeit. Ziel der Verhandlung ist eine Entscheidung oder ein Kompromiss: Wie gehe ich mit der Situation am besten um?
Gewinnen Sie Abstand
Machen Sie sich zum Zuschauer, der fern von Emotionen beobachtet und analysiert. Atmen Sie tief in den Bauch. Tun Sie so, als ob Sie einen Film im Fernsehen oder Kino anschauen würden. Ebenso hilft es, sich vorzustellen, was ein guter Freund zu der Situation sagen würde. Oder wie würde ein weiser Mensch das Geschehen kommentieren? Wie betrachten Sie die Situation im Rückblick nach fünf Jahren? Durch solche Distanzierungen fällt uns eine Neubewertung der Situation leichter – und das ist häufig auch der Weg aus dem Tal der negativen Emotionen.
Wie Mahatma Gandhi schon gesagt hat: „Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“ Bestimmen Sie wieder selber die Geschwindigkeit, in dem Sie Ihre eigenen Prioritäten setzen.
Literatur:
Keil, Philip. Ready for Take off: Wie Sie Ihre Stärken nutzen und Stress vermeiden – 10 Strategien der Berufspiloten. Goldegg Verlag, 2016.
Nagel, Ulla: Macht uns unsere Arbeit krank? In: BVMW Kurier, Band 3, 2011.
Das Buch zum Thema
Ihr Praxiswissen hat Antje Heimsoeth bereits in mehreren Büchern niedergeschrieben. Ihr neuestes Werk Chefsache Kopf: Mit mentaler und emotionaler Stärke zu mehr Führungskompetenzzählt bereits zu den Bestsellern unter den Motivationsbüchern. Mehr Informationen zum Buch finden Sie unter chefsache-kopf.de.
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