EGMR: Sexualkunde und Schulkarneval verstoßen nicht gegen elterliches Erziehungsrecht
Eltern zahlen keine Bußgelder wegen Verstößen gegen die Schulpflicht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat gestern entschieden, dass die verbindliche Teilnahme von Kindern am Sexualkundeunterricht und anderen schulischen Pflichtveranstaltungen das Erziehungsrecht von Eltern nicht eingeschränkt. Geklagt hatten fünf deutsche Ehepaare, die einer baptistischen Glaubensgemeinschaft angehören. Sie haben mehrere Kinder, die eine staatliche Grundschule in Nordrhein-Westfalen besuchten. 2005 beantragten zwei Ehepaare die Befreiung ihrer Kinder von den für Viertklässler vorgesehenen Unterrichtsstunden in Sexualkunde. Die Schule lehnte den Antrag ab, weil die Teilnahme an dem Unterricht verpflichtend sei. Die beiden betroffenen Kinder nahmen an den ersten beiden Unterrichtsstunden teil, ihre Eltern hinderten sie aber an der Teilnahme an der nächsten Stunde und schickten sie schließlich eine Woche lang gar nicht zur Schule. Dafür wurde von der Ordnungsbehörde ein Bußgeld von 75 € wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht verhängt. 2007 schickte ein weiteres Paar seine Tochter nicht zur Schule während ein Theaterprojekt mit dem Titel "Mein Körper gehört mir" veranstaltet wurde, das darauf abzielte, Kinder für das Thema "sexueller Missbrauch" durch Fremde oder auch Familienangehörige zu sensibilisieren. Sie wurden mit einem Bußgeld von 120 Euro belegt. Im selben Jahr hielten zwei Ehepaare ihre Kinder davon ab, am Schulkarneval teilzunehmen, da dieser mit ihren religiösen und moralischen Vorstellungen unvereinbar sei. Gegen sie wurden Bußgelder von 80 bzw. 40 € verhängt. Das zuständige Amtsgericht bestätigte die verhängten Bußgelder und befand insbesondere, dass das Erziehungsrecht der Eltern und ihre Religionsfreiheit durch den staatlichen Erziehungsauftrag eingeschränkt seien, der durch die Schulpflicht umgesetzt werde. Das OLG Hamm sah dies genauso. Das BVerfG nahm die diversen Verfassungsbeschwerden der Eltern dagegen nicht an. In der Folgezeit hielten drei Ehepaare weiter mehrere ihrer Kinder davon ab, an den von ihnen abgelehnten Unterrichtseinheiten und schulischen Aktivitäten teilzunehmen. Sie wurden deswegen mit Bußgeldern in zunehmender Höhe belegt, deren Zahlung sie verweigerten. Daraufhin wurden die sechs Elternteile den gesetzlichen Vorschriften entsprechend jeweils zu Gefängnisstrafen von bis zu 43 Tagen verurteilt.
EMRK schützt Eltern nicht vor anderen Überzeugungen
Der EGMR wies die Beschwerden der Eltern wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurück. Er habe bereits in einer früheren Entscheidung festgestellt, dass das deutsche Schulsystem, das eine Schulpflicht in Grundschulen vorsieht und Heimunterricht ausschließt, bezüglich der Zielsetzung nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Ziel des Sexualkundeunterrichts war nach den Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte hier die neutrale Wissensvermittlung über Zeugung, Verhütung, Schwangerschaft und Geburt auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher und pädagogischer Erkenntnisse. Ziel des Theaterprojektes war die Sensibilisierung für den sexuellen Missbrauch von Kindern, um diesem vorzubeugen. Das Gericht ist der Auffassung, dass diese Ziele mit der EMRK (Europäischen Menschenrechtskonvention) im Einklang stehen. Die im Verfahren beanstandete Karnevalsveranstaltung sei nicht mit religiösen Handlungen verbunden gewesen. Wie die deutschen Gerichte festgestellt hatten, hatte sich die Schule mit den alternativ angebotenen Aktivitäten zudem darum bemüht, die moralischen und religiösen Überzeugungen der Kinder und Eltern, die der baptistischen Glaubensgemeinschaft angehörten, so weit wie möglich zu berücksichtigen. Der EGMR unterstreicht, dass die Konvention kein Recht garantiert, nicht mit Meinungen konfrontiert zu werden, die den eigenen Überzeugungen widersprechen. Schließlich hätte es den Beschwerdeführern freigestanden, ihre Kinder nach der Schule und am Wochenende ihren eigenen religiösen Überzeugungen entsprechend zu erziehen. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die den Beschwerdeführern auferlegten Bußgelder unverhältnismäßig oder willkürlich gewesen wären. Die Gefängnisstrafen, stellten keine Sanktion für die Ordnungswidrigkeiten dar, sondern waren lediglich Mittel der Bußgeldvollstreckung (EGMR, Urteile vom 22.09.2011; Az.: 319/08, 2455/08, 7908/10, 8152/10, 8155/10).
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